Gulya Sultanova. Foto: Sasha Burova

Gulya Sultanova, Organisatorin des LGBT Filmfestivals Side by Side in St. Petersburg, im Gespräch mit Christoph Petersen, Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg/ Onlineredaktion Fink.Hamburg.

Seit dem Propagandagesetz ist das Leben für Schwule und Lesben in Russland schwieriger geworden. Dennoch sieht die LGBT-Aktivistin Gulya Sultanova Fortschritte und fordert mehr Einsatz in Deutschland.

Homosexualität ist in Russland nicht verboten. Doch seit 2013 steht im Land Propaganda gegenüber Minderjährigen von „nichttraditionellen sexuellen Beziehungen“ unter Strafe. Wer sich in Anwesenheit Minderjähriger positiv über Homosexualität äußert, muss ein hohes Bußgeld zahlen. Wie lebt es sich für Schwule, Lesben, Bisexuelle und Transgender, kurz LGBT, in einer solchen Gesellschaft? FINK.HAMBURG hat mit Gulya Sultanova gesprochen. Die 42-Jährige engagiert sich seit 2008 in der Lesben- und Schwulenbewegung in St. Petersburg und organisiert das LGBT-Festival Side by Side.

FINK.HAMBURG: Wie tabuisiert ist Homosexualität heute in Russland?

Gulya Sultanova: Man kann das nicht verallgemeinern. Zwischen einzelnen Regionen gibt es große Unterschiede – genauso, wie zwischen Stadt und Land, Großstadt und Kleinstadt. In St. Petersburg ist es zum Beispiel viel einfacher als in Nowosibirsk.

Wie ist die Lage in St. Petersburg?

St. Petersburg ist die zweitgrößte Stadt und der Leuchtturm der LGBT-Bewegung in Russland. Die Community ist hier sehr lebendig und es gibt viele Veranstaltungen und gleich drei Community-Center – in Moskau zum Beispiel nur ein einziges in der ganzen Stadt. Moskau ist die Stadt der Karriere und der Politik. Deshalb gibt es dort weniger Freiräume als in St. Petersburg.

Gibt es in St. Petersburg Schwule und Lesben, die ihre Sexualität in der Öffentlichkeit zeigen können?

Eigentlich nicht. Die Leute trauen sich nicht, Hand in Hand die Straße entlangzulaufen oder sich öffentlich zu küssen. Wenn du die ganze Zeit hörst, dass du falsch bist, dann traust du dich das einfach nicht. Was sich die Menschen dagegen schon trauen, ist, auf Demonstrationen zu gehen und dort die Regenbogenflagge zu zeigen.

„Das Propagandagesetz war das Schlimmste was uns passieren konnte.“

Wer hat es schwerer: homosexuelle Frauen oder Männer?

Frauen haben es auf jeden Fall einfacher, als Paar zu leben, denn man rechnet ihnen weniger sexuelle Begierde zu. Viele denken, dass zwischen Frauen keine Liebesbeziehung entstehen kann. Es hat mehr einen schwesterlichen oder rein freundschaftlichen Charakter. Für Männer ist es dagegen wirklich schwierig, in der Öffentlichkeit Liebesbekundungen zu zeigen: Hand in Hand zu gehen oder sich auf zärtliche Weise zu umarmen, das kann Unverständnis und Aggressionen hervorrufen.

Dennoch müssen LGTB doch irgendwie am öffentlichen Leben teilnehmen. Wie organisieren sie sich?

Es gibt Community-Center, die zu unterschiedlichen LGBT-Organisationen gehören. Und es gibt natürlich auch Gay- oder Lesben-Clubs. Die sind mehr oder weniger offen für jeden, aber es gibt keine Schilder, die darauf hinweisen, dass sich hier die Szene trifft. Man sieht einfach nur den Namen des Clubs, aber zum Beispiel keine Regenbogenflagge. Das schützt die Community vor Angriffen von außen. Es gibt außerdem Veranstaltungen von LGBT-Menschenrechtsorganisationen, Seminare, Trainings, Konferenzen und Workshops. Und das Side by Side Filmfestival ist ein völlig offenes und beliebtes Kulturevent in St. Petersburg und Moskau.

Von Deutschland aus betrachtet, entsteht der Eindruck, dass die Lage für Schwule und Lesben in Russland schlechter wird. Kannst du das bestätigen?

Aus unserer Sicht war das Propagandagesetz, das verbietet, in Anwesenheit Minderjähriger positiv über Homosexualität zu sprechen, das Schlimmste, was uns passieren konnte. Aber ich denke, wir haben das heute psychologisch überwunden. Wir wissen jetzt, wie wir unter den bestehenden Umständen weiter kämpfen können. Je mehr wir arbeiten, desto mehr erleben wir positive Veränderungen – sogar auf staatlicher Ebene, auch wenn das nicht immer ersichtlich ist. Zum Beispiel hatten wir dieses Jahr gute Erfahrungen mit der Polizei bei der Durchführung unseres Festivals. Sie war sehr konstruktiv, kooperativ und hat uns geschützt. Das war in den vergangenen Jahren nicht immer so. Wenn wir zurückschauen, wie die Polizei heute zu uns steht oder mit uns zusammenarbeitet, dann ist das ein riesiger Unterschied zu früher.

Gibt es auch Rückschläge?

Ab und zu gibt es unter den politischen Hardlinern Vorschläge, das Propagandagesetz zu verschärfen: Es sollen Gefängnisstrafen für die Verbreitung von Informationen über LGBT eingeführt werden. Aber in der jetzigen politischen Situation wäre das dumm.

Warum wäre das dumm?

Die Gesellschaft hat sich in den vergangenen fünf Jahren verändert. Die Unterstützung für  ein solches Gesetz wäre nicht sehr groß. Und das Propagandagesetz wurde in den vergangenen Jahren kaum angewendet. Es gab so gut wie keine Urteile. Warum sollte man das Gesetz also noch verschärfen? Außerdem würde ein solches Gesetz große internationale Kritik zur Folge haben – und das kann Russland nicht gebrauchen. So wichtig ist das LGBT-Thema der russischen Regierung dann auch wieder nicht.

„Auch in Deutschland gibt es noch viel zu tun.“

Immer mehr Länder weltweit erlauben homosexuellen Paaren zu heiraten. Warum hängt Russland dieser Entwicklung hinterher?

Da muss ich etwas ausholen: Die LGBT-Bewegung ist in den einzelnen Ländern sehr spezifisch und hängt mit historischen, kulturellen und politischen Dingen zusammen. In Russland wurde Homosexualität erst 1993 entkriminalisiert. Das war eine riesige Erleichterung für die Community. Denn zuvor wurden homo- und bisexuelle Menschen 60 Jahre lang staatlich verfolgt – das sind einige Generationen! Homosexuell zu sein, galt schlimmer, als eine Straftat zu begehen. Dabei waren die 1920er Jahre in Russland noch eine Blütezeit: Es gab offen homosexuell lebende Menschen und Transgender, keine Scham und keine Verfolgung. Die Gesellschaft hat das nicht gestört, es galt höchstens als ungewöhnlich.

Dann kam das Stalin-Regime und hat diese Gesellschaft, die angefangen hatte, sich zu befreien, ins Gegenteil verkehrt. Schwule Männer konnten nun wieder ins Gefängnis gesperrt und lesbische Frauen in die Psychiatrie eingewiesen werden. Als 1993 die Kriminalisierung endete, entstand eine neue Bewegung, zu der auch ich mich zähle. Darauf wiederum folgte mit dem Propagandagesetz eine repressive Reaktion des Staates. Die Gesetze sind letztendlich nur politische Instrumente, um Wahlen zu gewinnen. So war es auch mit dem Propagandagesetz. Es wurde zunächst in St. Petersburg auf Stadtebene, später dann auch auf Bundesebene eingeführt und parallel in staatlichen Medien eine massive homophobe Kampagne organisiert – um die Aufmerksamkeit der Gesellschaft von ungelösten sozialen Problemen zu lenken. Diese Mechanismen sind ja allgemein bekannt und werden leider überall auf der Welt angewendet.

Du bist mindestens einmal im Jahr in Hamburg, weil du einen Austausch zwischen deutschen und russischen Homosexuellen organisierst. Wie siehst du hier die LGBT-Szene?

Die deutsche Bewegung befindet sich glücklicherweise in einem komplett anderen Zustand als unsere. Die Gesellschaft ist viel offener. Rund 80 Prozent der Bevölkerung haben der „Ehe für alle“ zugestimmt. Das war richtig klasse, eine Errungenschaft der Bewegung und ein Grund, stolz zu sein. Gleichzeitig sehe ich, dass die politischen Strukturen bei diesem Prozess nicht mitziehen. Dass die „Ehe für alle“ erst 2017 verabschiedet wurde, ist eigentlich ein Skandal. Außerdem wird nicht genug für Transgender getan. Diese Gruppe haben viele, auch innerhalb der LGBT-Community, aus dem Blick verloren. Von daher gibt es auch in Deutschland noch viel zu tun.